„Für so kleine Ziele springt doch niemand ins Feuer“

Früher Neonazi, heute Vordenker der Neuen Rechten: Benedikt Kaiser verordnet der AfD mehr Mut zum Extremen.

„Der Rechtspopulismus hat seine Aufgabe erledigt – jetzt braucht es endlich Mut zur Weltanschauung!“ Kurz vor dem AfD-Parteitag am Wochenende in Essen holt Benedikt Kaiser groß aus. Der 37-jährige Politologe, Vordenker der sogenannten Neuen Rechten und ehemaliger Neonazi, setzt den Ton, mit dem die Parteispitze in den kommenden Tagen zu rechnen haben wird. In seinem Podcast Jungeuropa, dem vor allem jüngere AfD-Leute und das extremistische „Vorfeld“ der Partei mit größter Aufmerksamkeit folgen, warnt er vor dem, was er verächtlich „Melonisierung“ nennt: „eine establishmentkonforme Mitte-rechts-Show mit patriotischem Jargon, der aber die grundsätzlichen Weichen nicht anders stellt. Für so kleine Ziele springt doch niemand ins Feuer!“

Wer ist dieser Mann, der von der AfD mehr Radikalität statt weniger verlangt, der rhetorisch so eskaliert und manchen als kommende intellektuelle Leitfigur der radikalen Rechten gilt?
Wenn man Benedikt Kaiser gegenübersitzt, fällt es nicht ganz leicht, seine oft martialischen Töne mit einem unbeirrt freundlichen, humorvollen und irgendwie nerdigen Auftreten in Einklang zu bringen. Sicher, da sind die ausrasierten Schläfen, die scharfen Gesichtszüge, die zackige Brille und das salvenartige Sprechtempo. Aber woher nimmt ein Rechtsintellektueller wie Kaiser, der im Deutschen Bundestag beim thüringischen AfD-Abgeordneten Jürgen Pohl arbeitet, die Schneidigkeit, nach der Europawahl auf X folgende „drei Schritte für Thüringen“ zu deklamieren?

„Erstens: Ramelow in Rente senden; Linkspartei pulverisieren. Zweitens: Selbst 30 Prozent erreichen, CDU in eine fragile Linkskoalition mit SPD und BSW zwingen. Drittens: CDU-Widersprüche bespielen; auf Implosion hinarbeiten; bei der nächsten Wahl CDU pulverisieren.“

Natürlich weiß auch Kaiser, was ab Freitagabend auf die Partei zukommt: Ein nie da gewesener Gegenwind von Zehntausenden Demonstranten aus der gesamten Bundesrepublik inklusive Pyrotechnik, Clowns und Tanz (aber, so die Veranstalter, „ohne Nationalfahnen!“). Der Widerstand reicht vom Essener CDU-Bürgermeister Kufen über Kirchen und Gewerkschaften bis zur Organisation „Widersetzen“, die verhindern will, dass der Parteitag in der Grugahalle überhaupt stattfinden kann.

Doch die Parteispitze muss auch mit Widerstand aus den eigenen Reihen rechnen. Von außen betrachtet hat es in den vergangenen Monaten gewirkt, als habe sich die AfD einfach immer weiter radikalisiert. Der rechte Rand innerhalb des extremen Lagers sieht das anders. Für Kaiser etwa war der Ausschluss des Europa-Spitzenkandidaten Maximilian Krah aus der Brüsseler AfD-Fraktion nach dessen verharmlosenden Äußerungen über die SS glatter Verrat – genau wie die halben Distanzierungen der Parteispitze vom Begriff „Remigration“ nach dem Potsdamer „Geheimtreffen“ im November.

Per Akklamation soll die AfD-Führung in Essen nun dazu gezwungen werden, Krah wieder aus der Verbannung zu holen. Es mangele dem Parteivorstand, urteilt Kaiser barsch, an Schneid, sich der „Magie der Mitte“ zu widersetzen. Eine Kulturrevolution bleibe nötig. Es gelte, die „Vergemeinschaftung eines pulverisierten und verstreuten Volkes“ ins Werk zu setzen. „Mit ihm haben wir zu arbeiten.“

Über seine Herkunft, sein Privatleben und vor allem die Jahre als Neonazi im „Nationalen Widerstand“ bei den Autonomen Nationalisten 2005 bis 2011 will Kaiser am liebsten gar nicht groß reden. Zu oft sei schon in seiner Familie herumgeschnüffelt worden, die wolle er heraushalten. Die Familie, die es aus dem Osten in eine nordbayerische Kleinstadt verschlagen hat, sei katholisch gewesen, der eine Großvater ein schlesischer Bergarbeiter, beide Eltern Akademiker. Was genau ihn als Jugendlichen zu den Autonomen Nationalisten getrieben hat – einer rechtsextremen „Freien Kameradschaft“ – und anderen militanten Gruppen der Chemnitzer Fußball-Ultras, kann oder will er nur vage sagen.

Kaiser sagt da oft „man“, nicht „ich“: „Man erlebte überall in Discos, Clubs oder Freibädern die Schlägereien zwischen Kurden und Türken, die Russlanddeutschen, Orte, wo man nicht mehr hingehen konnte, ohne so was zu erleben.“ – „Man wollte provozieren, anders sein.“ – „Man war der Paria unter den Parias.“ – „Es wurde was geboten, jedes Wochenende war was los.“

Fotos aus diesen Jahren zeigen Kaiser beim Gedenkmarsch für die Opfer des alliierten Bombardements („Bombenholocaust“, steht auf einem Plakat) in Dresden oder hinter Losungen wie „Die Demokratie hat keine Zukunft“, mit finsterer Miene im Kreis schwarz gekleideter Gesinnungsgenossen in Hoodies und Cargohosen. Es ist kein Zufall, dass dieser Aufzug und viele Aktionsformen denen der linken Autonomen ähnelten. Glatzen und Springerstiefel oder die streng gescheitelten NPD-Anzugtypen mit ihrer NS-Verherrlichung waren irgendwann nichts mehr für jemanden wie Kaiser, der viel las und studieren wollte.

Weder er noch seine Freunde seien je gewalttätig geworden, behauptet er. „Die Militanz war bloße Geste“, erklärt Kaiser. Ihm selbst haben die Behörden tatsächlich nie etwas vorgeworfen. Teile der Szene traten Gegendemonstranten und Polizisten gegenüber aber durchaus aggressiv auf. Er will nichts entschuldigen, sich aber auch nicht distanzieren und trotzdem irgendwie klarmachen, dass zwischen dem Benedikt Kaiser von damals und dem Autor von heute Welten liegen.

Eine bedrohliche Vernetzung rechter Gruppen ist da im Gang

Aber welche Welten sind das? Wie wird jemand vom Neonazi zum deutschen Vordenker der Neuen Rechten? Zum Studium der Politikwissenschaft zog es ihn in den Osten, die „Arbeiterstadt Chemnitz“, wie er sagt, und zu dem Politologen und Extremismusforscher Eckhard Jesse. Über verschiedene Kanäle der autonomen Szene war er an der Uni schnell als „der Fascho“ bekannt, sein „Outing“ durch die Antifa nennt er das heute. Wenn Kaiser im Hörsaal stand und Referate halten wollte, rief mit Sicherheit jemand „Halts Maul, Nazi!“.

Seine Gegenwehr: Übereifer, Lektüregebirge erklimmen, „Weltanschauungs-Nerd“ werden. Allein 42 Bände mit den Schriften Lenins hat er zu Hause stehen. Von den Professoren, auch den linksliberalen, das ist ihm wichtig, sei er allerdings nie diskriminiert oder schlechter behandelt worden: „neutral, fair eben“.

Links-rechts, Nationalismus und Sozialismus – für Kaiser ging es schon im Studium um den Versuch, beides so zu verbinden, dass man nicht bei „Hitler und dessen Praxisresultaten“ (Kaiser) landet. Einer seiner Helden ist der Publizist Otto Strasser, Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, dann auf der „roten Seite“ der Barrikaden in der Novemberrevolution, später Mitglied der NSDAP, die er aber 1930 aus Protest gegen deren „Verbonzung“, Oligarchisierung und Führerkult verließ – nicht unähnlich dem, was Kaiser und seine Freunde der AfD-Spitze heute immer wieder vorhalten.

Strassers Absage an den Rassenwahn (das Wort „Antisemitismus“ fällt bezeichnenderweise weder bei Strasser noch bei Kaiser jemals), sein Antiimperialismus und Antikapitalismus lieferten dem Studenten Kaiser herrliches Material zur Provokation seiner linken Kommilitonen, aber auch gegen die NS-affinen Teile des eigenen Milieus. In der Verschmelzung von Konservatismus und Revolution („das Ewiggültige“, so Kaiser, „muss durch progressiven Formwandel erhalten bleiben“) liegt ein Kernimpuls der Neuen Rechten.

Im Sommer 2009 traf Kaiser das erste Mal auf den Verleger Götz Kubitschek, der auf seinem Rittergut in Schnellroda in Sachsen-Anhalt Gesprächskreise und Seminare zu all dem anbot, was dem Studenten unter den Nägeln brannte. Dort lernte er den Publizisten Karlheinz Weißmann kennen, Kolumnist der rechtsnationalen Tageszeitung Junge Freiheit. „Den konnte man alles fragen, der hatte immer eine Antwort“, sagt Kaiser.

Er erzählt, damals seien noch sehr viele CDU-Leute und Studenten vom unionsnahen Studentenverband RCDS in Schnellroda gewesen, heute nicht mehr. Man las die Klassiker der „Konservativen Revolution“: Ernst Jünger, Armin Mohler, Carl Schmitt, man saß im Freien, hatte Gesellschaft und Gemeinschaft. „Es war eine geile Zeit“, lautet Kaisers knappes Fazit. Für viele der Jüngeren, wohl auch für Kaiser selbst, hatte die Tatsache, dass die Gastgeber – Götz Kubitschek und dessen Ehefrau, die Publizistin Ellen Kositza – ein Paar mit sieben Kindern waren, sicher auch einen nicht zu unterschätzenden Geborgenheitseffekt. Ab 2013 beschäftigte Kubitschek Benedikt Kaiser fest als Lektor. Er blieb acht Jahre.

Während für Kubitschek die Autoren der „Konservativen Revolution“ entscheidend sind und der Fokus meist national bleibt, richtet sich Kaiser nach Europa, vor allem nach Frankreich aus. Telefonisch erreicht man ihn oft in Wien, Paris, Belgrad oder Budapest. Eine beeindruckend-bedrohliche Vernetzung extrem rechter Gruppen ist da im Gang. Nirgendwo aber dürfte die intellektuelle Produktivität neurechten Denkens so üppig sein wie in Frankreich. Allein im Spannungsfeld zwischen Marine Le Pens Rassemblement National, Eric Zémmours rechtsextremer Partei Reconquête (Rückeroberung) und den Identitären um die Le-Pen-Nichte Marion Maréchal mit ihrer eigenen Kaderschmiede entstehen immer neue rechte Diskurspirouetten.

Wie ein Schlag habe ihn, Benedikt Kaiser, der erste Satz in Kulturrevolution von rechts, der Kampfschrift seines großen Vorbilds Alain de Benoist (Jahrgang 1943) getroffen: „Die alte Rechte ist tot. Sie hat es wohl verdient.“ Mit ihrer blinden NS-Verehrung habe sie, so de Benoist, einer geistigen Faulheit Vorschub geleistet, ein Weltbild für die Gegenwart zu entwickeln. Von Linken könne man lernen, dass politische Hegemonie zuerst im kulturellen Raum entsteht, in den Liedern, den Filmen, den Witzen und Moden. Tanz den Mussolini!

Benoist verabscheut den Kapitalismus genauso wie das Christentum, den Menschenrechtsdiskurs, wie Kommunismus, Individualismus und, natürlich den Hauptfeind, Neoliberalismus – alle sind in seinen Augen darauf ausgerichtet, das Gemeinschaftsgefühl, die Vitalität und die regionale Besonderheiten eines Volkes zu schleifen. Kaiser ist mehrmals zusammen mit de Benoist aufgetreten. Er ist Deutschlandkorrespondent von Benoists Zeitschrift Éléments.

Heute sagen manche in der AfD, Benedikt Kaiser sei dabei, Götz Kubitschek als intellektuellen Taktgeber der „Bewegung“ zu ersetzen. Seine inzwischen neun Bücher mit sprechenden Titeln wie Marx von rechts, Solidarischer Patriotismus oder Querfront, dazu unzählige Artikel und Podcasts bei seiner neuen Heimat, dem Verlag Jungeuropa, haben vor allem eine Nachricht an die AfD, die man etwa so paraphrasieren kann: Die Linke hat die soziale Frage zugunsten der Minderheitenpolitik fallen gelassen – machen wir sie uns zur Herzensangelegenheit.

Es ist der Kapitalismus, der steter Migration bedarf, aber die Leute wollen sie nicht. Der Sozialstaat ist für das eigene Volk da, kein Pull-Faktor für multikulturelle Elemente. „Sprache und Geist“, so Kaiser wörtlich, „müssen entliberalisiert werden“, auch in der AfD. Auf keinen Fall dürfe die Bewegung sich in Partei und Vorfeld, in AfD und Aktivisten, spalten lassen, man gehört zusammen. Das ist Benedikt Kaisers Mission, nur so, glaubt er, kann sich die AfD auch gegen die Konkurrenz durch Sahra Wagenknecht behaupten. Das Land übrigens, in dem er lebt und das er zu lieben behauptet, nennt er konsequent „die BRD“.